Einfach verrückt

  • Ende Mai 1945 begannen wir wieder mit einem regelmäßigen Unterricht. Unsere Schule, in der östlichen Vorstadt gelegen, dort wo schon die Gartenanlage beginnt und durch die hindurch der Weg zur Landstraße in die 6 km entfernte dörfliche Umgebung führt, wo bergauf zu beiden Seiten Wiesen und Felder sich ausbreiten, in diesem „ Haus “ begannen wir Kinder mit dem Lernen. Das Gebäude war „schultauglich“, die Fenster hatten wieder Scheiben, die Zimmer waren für uns vorbereitet. Mutter begleitete uns den ersten Tag zum Unterricht. Den Ranzen hatten wir ja noch, dank ihrer Fürsorge, nur die Ersatzkleidung sah etwas eigenartig aus. Wir waren gewachsen, oder waren diese guten Ersatzstücke heimlich eingegangen? Gleichwohl, sie waren die Einzigen und Frau Sorge hatte andere Probleme.Den ersten Schultag könnte man gleichsetzen mit einer „Bestandsaufnahme“, wie viele Schüler waren noch da vom bekannten Klassenverband, wie sah unser Lernmaterial aus. Einige von uns besaßen noch ihre Lesebücher sowie die für Rechnen und Deutsch. Das Alles musste bedacht werden. Neu für uns Kinder waren die Lehrer, Neulehrer genannt, hier begegneten wir bereits einer Systemwende, der einer neuen Ideologie. Unsere Klassenlehrerin wurde Frau Meves, ehemalige Sekretärin mit Abitur und Mutter. Sehr nett, wir lernten bei ihr im Deutschunterricht, vor allem Lesen, Rechtschreiben und in unserem Lieblingsfach, Literatur.Wir fragten nach den uns bekannten Lehrern, waren sie alle im Krieg geblieben? Hier wurden wir mit dem Begriff „ Entnazifizierung“ konfrontiert, besser, bekannt gemacht. Verstanden haben wir es sicher nur in soweit, als wir Lehrer Ziegelschmidt, ehemaliger Deutschlehrer, sowie unseren Sportlehrer Herrn Prell mit auf den „Bau“ bei der Enttrümmerung sahen. Sie sollten körperliche Arbeit verrichten, und die Arbeiter dafür lehren. Wir Kinder sahen es einfach als einen „Tausch“ an. Gefragt bei den Erwachsenen nach dem Warum: Nun die Lehrer waren beide Mitglieder der „ SA“, uns Kindern bekannt als zugehörig zu dem Vergangenen, mit zu dem Liedgut wo es unter anderem heißt: „Heute hört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt“! (nicht „gehört, sonder: „hört“, wir haben es schon richtig gesungen!) Mein Freund Kurtl meinte in der Pause zwischen den Stunden: Schade, das es die Welt gehört hat Berthi, nun sind sie alle da, wir brauchen sie doch gar nicht. Wo er recht hatte, hatte er recht! Der regelmäßige Unterricht und der lange Schulweg waren wieder gewöhnungsbedürftig, nicht nur für mich. Wir waren bereits in der 3. Klasse, das Lesen war holprig und klang entsetzlich. Da nicht alle Schüler ein Lesebuch besaßen, druckte Frau Meves Seiten aus, die dann zu Lesehausaufgaben wurden. Wir hörten von „Ernst Thälmann“ Sohn seiner Klasse, von Liedern einer anderen Zeit, die vor dem „3. Reich“ gesungen wurden. Auf diese Art lernten wir zurück sehen, um gleichzeitig die vielen Tränen der Mütter mit zu bemerken, die auch damals bei diesem „Systemwechsel“ zum „Deutschen Reich“ hin, geweint wurden. Das Ende dieser Zeit ist allen bekannt. Würde ich heute fragen warum es so war und ist, würde man mir sicher erklären, schau doch bei „Google “ nach, dort ist alles hervorragend aufgezeichnet und nachlesbar, nur meine Suche nach dem Grund, nach dem Verhalten der Menschen, nach den sinnlosen Kriegen, blieb erfolglos. Warum bedroht der Mensch immer wieder den Menschen, Warum? Rolf Biermann, bekannter Schriftsteller, sagt es meiner Meinung nach treffend: „ Es sind nicht die Ketten, es sind nicht die Bomben, es ist der Mensch der den Menschen bedroht.“ Wie soll es dann zu einem Frieden, zu einem Weltfrieden kommen? Werden wir Menschen wahrhaft sterben müssen, damit endlich Frieden auf unserer Erde ist?Ende Juni feierten wir meinen 9. Geburtstag. Meine Mutter überraschte mich mit ihrer guten Kartoffeltorte und einem neuen Hemd. Kurtl durfte, da es ein Wochenende war, mit bei uns im Gartenhaus übernachten. Der alte Nussbaum mit den starken Ästen bot immer noch Platz für uns zwei. Und dann erzählte mein Freund mir wie es nach dem Ende, wie er sagte, war. Weißt Du, Berthi, vor den Panzern kamen zwei „offene“ Fahrzeuge mit schwarzen Soldaten, danach erst die Weißen, sie fuhren über die Landstraße in die Stadt. Wir standen am Zaun und guckten durch die Latten. Einer sagte, das ist der „Ami“, (Amerikaner) wir werden aufgeteilt und besetzt von den Siegern. Wir haben den Krieg verloren. Was das zu bedeuten hatte, lernten wir so nach und nach im Unterricht, wie auch im Alltag kennen. Auf dem Zeugnis am Ende der 3. Klasse von 1945 standen außer den Zensuren: „ Durch Kriegseinwirkungen sind die Leistungen stark herab gesetzt“. Ich möchte vermerken: Das war der Anfang, nur ein Anfang, aber unbedingt ausbaufähig hin zu einer guten Schulbildung die den internationalen Vergleich einst standhalten wird und es später auch hat. Wie ging es nun weiter? Die Alliierten einigten sich dahin gehend, dass die Amerikaner von unserem Gebiet abzogen und die Sowjets uns hier besetzten, wir wurden zur „Russischen Zone“, das hieß umlernen, begreifen, nicht nur für uns Schüler. Es war einfach ein völlig anderer Weg, einer, der sich damals auf die Fahne geschrieben hatte: Nie wieder Krieg, damit nie mehr eine Mutter ihren Sohn beweint. Welch ein Motto!Sommer, Sonne, das Klingelzeichen beendete die letzte Unterrichtsstunde, Ranzen gepackt und aus dem Schulzimmer gestürmt, laut und lärmend. Herrlich, wir haben Ferien, die „großen Ferien“!


    Anmerkung: geschrieben von Bert Berthold

  • … mit großem Interesse, Berth Berthold, lese ich Ihre Beiträge über die erstenSchuljahre in der Nachkriegszeit. Ihre Erzählungen haben viele Erinnerungenwachgerufen (z. B. an ein Schreibheft als Geburtstagsgeschenk von der Klassen-lehrerin, was damals etwas ganz besonderes war, denn für alle Tage mußte dieSchiefertafel der älteren Geschwister genügen.)Wenn wir unseren Enkeln aus dieser Zeit erzählen, ordnen sie das, glaube ich,manchmal fast bei “Grimm`s Märchen” ein – möge es so bleiben!


    Anmerkung: geschrieben von Sonne

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