Magie
Dicke schwarze Gewitterwolken hatten fast das gesamte Blau des Himmels bedeckt, als ich mich von Giorgio verabschiedete und in mein Auto stieg. Der Wind war eingeschlafen und der süße Duft der Blüten lud zum Verweilen ein. Ich hatte einfach keine Zeit, musste nach Hause um das eben Erlebte aufzuschreiben. In meinem Kopf drehte sich ein Gedankenkarussell. Ich nahm einen Umweg. Fast mechanisch lenkte ich meinen Wagen. Ich ließ zu, dass meine Gedanken mich ablenkten. Ich war allein auf der Straße. Plötzlich fiel mir auf, dass es kein Blau mehr am Himmel gab. Kein Sonnenstrahl konnte das Schwarz der Wolken durchdringen. Erste dicke Regentropfen zersprangen wie kleine Kristalle auf der heißen Teerstraße und verdampften augenblicklich zu einem Nebel. Ohne Vorwarnung zuckten bizarre Blitze über den Himmel und der Donnerschlag folgte ohne Verzögerung. Die Natur schien in Aufruhr.
Der Regen ließ den Scheibenwischern kaum eine Chance. Das grelle Licht der Blitze blendete mich und der Lärm des Donners war ohrenbetäubend. Meine Augen suchten ein Gasthaus, das ganz in der Nähe sein musste, nur wo? Während die Xenonscheinwerfer versuchten, das Chaos der Natur zu durchdringen, fing das Gedankenkarussell an, sich wieder zudrehen. Ich war bei Giorgio und bei all denen, die bei dem Projekt mitmachen, sah, wie wir alle auf einen Bildschirm starrten, auf dem der Film von Marco Polo lief. Das Gedankenkarussell blieb bei einer Szene stehen, wo Marco auf dem Meer in einem Segelschiff reiste, dessen Segel vom Sturm zerfetzt wurden. Ein Mast ragte vom Blitz gespalten bizarr in die Höhe. Haushohe Wellen rollten über die Blanken und wollten das Schiff unter Wasser drücken. Plötzlich wurde der Schatten einer Insel sichtbar. Zu nah, zu gefährlich waren die Klippen und jeder wusste, dass noch mehr Gefahren im Inneren der Insel lauerten. Geflüsterte Geschichten erzählen, dass sie von Menschenfresser bewohnt wären. Keiner, der hier gestrandet sei, wäre wiedergesehen worden. Das Schiff steuert auf das steinige Ufer zu. Als der Schiffsrumpf über die Steine kratzte, jagte ein Schauder über meinen Rücken.
Ein gewaltiger Blitz zerriss den Himmel…
Da sah ich den Schatten des Gasthauses, das ich gesucht hatte. „Zur Räuberschänke“ wie passend, dachte ich. Die wenigen Meter vom Auto bis in das Innere der Schenke, haben mich total durchnässt. Dicke dunkle Balken durchzogen den Gastraum, die Holzstühle waren aus grob gehauenem dunkeln Holz, ebenso die Tische. Ich war der einzige Gast. Der heiße Tee stand dampfend vor mir. Das Handtuch, welches mir die alte Wirtin brachte, hatte seinen Zweck erfüllt. Sinnend starrte ich in das Glas und hörte der Melodie des Windes zu. Aus der Ferne nahm ich das Grollen der Natur wahr. Ich hatte Zeit zu reflektieren, was ich am heutigen Tag erlebt hatte: Alle Darsteller für das Projekt kamen zusammen. Nichts und niemand soll jemanden daran hindern, an diesem Theaterprojekt mitzuwirken. Barrierefrei soll das Theater sein, das ist das große Anliegen von Giorgio.
Als der Film zu Ende war, stand eine Frage im Raum: „Wer will was spielen?“, fragte Giorgio
Gar nicht so einfach, dachte ich. Wie soll der Gehörlose die Frage beantworten, der Blinde, die Darsteller, die Behinderungen an Körper und Geist haben, diejenigen, die die deutsche Sprache nicht so gut verstehen und sprechen können. Was nun passierte, grenzte schon an kleine Wunder. Mit Händen und Füßen wurde übersetzt, Münder formten lautlose Worte, die dennoch verstanden wurden. Worte, ja ganze Szenen wurden durch Bewegungen und Tänze transportiert. Es gab eine Szene, die mich total beeindruckt hatte: Sie war jung. Sie saß im Rollstuhl. Ihr Körper und Geist wollten ihr nicht gehorchen. Sie wollte die Prinzessin spielen. Pier Giorgio ging zu ihr und leise Worte kamen über seine Lippen. Sein Körper fing unvermittelt an zu tanzen. Es waren weiche, fließende Bewegungen. Die Augen der jungen Frau blickten Verständnis suchend. Plötzlich griff sie an die Reifen ihres Rollstuhles, ließ den Stuhl „tanzen“ erhob den anderen Arm zum Willkommensgruß der Prinzessin Cocacin und lachte laut und fröhlich mit strahlenden Augen in den Raum. Vor Freude und Überraschung zuckte ich innerlich zusammen. Das ist Magie, dachte ich so bei mir. Nur sie kann solche Wunder bewirken …
Ein grelles Licht durchdrang das Zimmer und warf bizarre Schatten an die Wand.
Licht und Schatten
Da sitze ich inmitten der Dunkelheit hinterm Haus. Es ist Mondfinsternis und kein Stern will das Firmament erleuchten. Um die Kühle der Nacht erträglich zu machen, habe ich Feuer in meiner „Pennertonne“ entfacht. Durch Muster, das ich ins Metall geschnitten habe, ist das Flackern der Flammen deutlich zu sehen. Ihr Licht reicht gerade aus, um meine Notizen zu lesen und neue hinzuzufügen. Bewegt sich da nicht etwas? Geräuschlos steht er da, der Schatten. Meine Fantasie lähmt meine Gedanken. Ich rufe leise: „Wer ist da“? Keine Antwort. Mir fallen sämtliche Gruselgeschichten ein. Da, der Schatten bewegt sich und dort noch ein zweiter? Langsam stehe ich auf, nehme all meinen Mut zusammen und gehe auf die Schatten zu, die nicht weichen wollen. Sekunden später entpuppt der personifizierte Schatten sich als eine Täuschung, als ein Spukbild meiner Fantasie. Die Flammen haben ihn zum Leben erweckt.
Lasst uns in die Schattenwelt gehen. Sie ist so alt wie das Licht. Viele Geschichten und Mythen ranken sich um die Schatten. Warum? Weil wir sie wie auch das Licht nicht erklären können. Die Tatsache, dass es Schatten gibt, ist für uns ein Geheimnis, etwas, was sich ebenso wenig erklären lässt, wie das Licht selbst. Wenn das Denken nicht mehr hilft, setzt die Phantasie ein. Dem Spiel von Licht und Schatten haftet deshalb auch immer etwas von diesem Geheimnis an.
Mein Kopf ist voll von dem, was ich heute erleben durfte. Ich habe hinter die Kulissen schauen dürfen, als Giorgio mit Schatten experimentiert hat. Durch Zufall, wie er mir sagte, entdeckte er die Wirkung von Licht und Schatten, als er an dem Entwurf zu dem Projekt: Marco Polo arbeitete. Nur durch die Veränderung der Lichtquelle wurde aus einem kurzen Schatten ein langer, wurde aus einer scharf begrenzen Kontur etwas Fließendes und aus einem dunklen Schattenpunkt wurde etwas Großes und Bedrohliches.
Diesen Effekt wollte er in seinem Theaterstück Marco Polo nutzen. Er ahnte, dass sich ihm eine Vielzahl von Möglichkeiten bot, die Zuschauer zu verzaubern. Mit sehr wenig Aufwand wird viel erzählt. Requisiten können kombiniert werden. Es entstehen neue Bilder, Zufallsbilder?
In Giorgios Gedanken herrscht ein totales Chaos. Bilder entstehen und vergingen. Aus ihnen entstehen neue Kreationen, die wie geschaffen für sein Vorhaben sind. Sie erlauben eine lebendig werdende Freigestaltung und freie Interpretation. Schatten gestalten sich selbst und sind im Licht, wandel- und veränderbar. Es entstehen magischer Momente.
Filigrane Bewegungen von Tänzerinnen werfen dunkle tanzende Schatten an die Wand. Sekunden später tragen diese Häuser, Schiffe, Skulpturen und erzählen ihre Geschichte. Aus diesen Schattenfiguren entstehen andere Elemente. Wie einem Zauber gehorchend formt sich der Palast der Khans, der kurze Zeit später in sich zusammenfällt, um dann zu einem neuen lebendig werdenden Element aufzuerstehen: Wir erleben die Seeschlacht bei Venedig. Wer aber glaubt, dass Schatten weder Emotionen noch Fantasien transportieren können, der irrt. Wenn Illusionen anfangen Geschichten zu erzählen, wird es spannend. Dann ist Magie im Spiel. Viele dieser Geschichten habe ich heute erleben dürfen. Einerseits bin ich erschöpft von den vielen Eindrücken des Tages, anderseits kann ich meine Neugierde, wie es weiter gehen wird, kaum bändigen.
Die nächtliche Ruhe wird nur durch das Knistern des Feuers unterbrochen. Mir ist als schreien die Flammen nach Nahrung, damit sie nicht nur gegen die Kühle der Nacht, sondern auch gegen die Schatten bestehen können. Als die Scheite in die Glut fallen erlebe ich ein Feuerwerk aus Funken. Still genieße ich diesen Augenblick. Ich spüre die Wärme, die Gefahr und als meine Augen die züngelnden Flammen fixieren, lasse ich meiner Fantasie freien Lauf.
Eine Reise durch die Theatergruppe
Ganz hinten in der Ecke eines minimalistisch eingerichteten Zimmers saß ich auf einem Holzstuhl und schaute den Kindern und Jugendlichen zu, die mit ihren Betreuern auf Giorgio warteten. Während ich Ihnen zusah, wurde mir bewusst, dass sie aus den verschiedensten sozialen Bereichen kommen. Hier versammelten sich die jüngsten Darstellerinnenund Darsteller des Laientheaters. Einige kommen aus betreuten Tagesgruppen, andere kämpfen mit sozialen Problemen und Benachteiligungen. Ich sah mehrere mit einem Migrationshintergrund, Akteure aus bildungsfernen Familien und aus Familien, die eine geordnete Lebenssituation aufweisen. Sie alle wollten Theater spielen und brachten ihre Kreativität selbstbewusst ein. Sie waren aufgeregt, hippelig und laut. Ich war froh, nicht zu den Betreuern zu gehören, denn es war eine Mammutaufgabe, die kleinen Quirligen zu beaufsichtigen. Sie sind ein Teil der Darsteller, das war ihnen bewusst. Einige tanzten, andere wiederum sangen oder sagten ihren Text auf, andere imitierten Geräusche von Elefanten oder fragten den Betreuer. Plötzlich wurde es still. Nur das aufgeregte Atmen der Kinder konnte ich hören. Sie hatten seine Stimme auf dem Flur gehört, die nun abrupt vor der Tür verstummte, hinter der sie waren. Sie öffnete sich langsam. Nur eine Hand auf der Klinke war zu sehen. Ihre Gesichter waren angespannt. Jetzt schwang sie auf und Giorgio trat mit einem fröhlichen „Hallo“ und strahlendem Gesicht ein. Augenblicklich war er umringt und viele redeten auf ihn ein. Es dauerte eine Weile, bis es ruhig wurde. Sie saßen auf ihren Stühlen, schauten Giorgio gespannt an und hörten zu. Er fragte sie und die Betreuer, was sie bisher mit Marco Polo „erlebt“ und unternommen haben. Wer meint, die Betreuer kämen zu Wort, der irrt sich. Die Kinder erzählten, dass sie den Film Marco Polo gesehen haben, dass sie die Abenteuer cool fanden, und zeigten ihre Sichtweisen und Fantasien auf. Voller Stolz sagten zwei Mädchen, dass sie die Rolle des kindlichen und jugendlichen Marco Polo spielen wollen. Ein anderer Junge mit einer Benachteiligung will unbedingt die Rolle des chinesischen Heilers übernehmen. Jetzt war es Giorgio, der gut zuhörte. Es war nicht nur für ihn interessant, wie die Kinder diese Welt sahen, wie sie denken und fühlen. Manche Fantasien vermischten sich mit anderen aus einer anderen Welt.
So tobten „Indianer“ durch das Land des Khans, trieben Menschenfresser ihr Unwesen auf abgelegenen Inseln und Krokodile warteten auf ihre Beute. Doch so abstrus diese Fantasien waren, sie passten sich in die Geschichte ein. „Das ist der Vorteil eines Laientheaters“, sagte ich mir. Ihre Aspekte und ihre Hingabe zu diesem Projekt schufen eine spürbare lebensfrohe Atmosphäre. „Das ist gelebte pure Inklusion.“ Giorgio diskutierte eifrig mit den Kindern. Ich sah, dass er in ihrem Kreis integriert war. Ungeniert zeigten sie ihm, wie sie sich bewegten, tanzten und er korrigierte und zeigte ihnen, wie es gehen könnte, wenn sie nicht weiterwussten. Es wurde viel gelacht. Giorgio blieb keine Antwort schuldig. Mit einer bewunderungswürdigen Leichtigkeit schaffte er es, die Kinder noch mehr für das Theaterspiel zu begeistern und damit wurde auch der Zusammenhalt untereinander gestärkt. Wie leicht es ihnen schien „Barrieren“ zu ignorieren und sich gegenseitig zu helfen.