Der letzte Weg von Bruno
Die Sonne brannte unbarmherzig auf das verdorrte Land. Die Erde unter seinen schweren Füßen war hart und rissig, nur hin und wieder sprossen ein paar widerstandsfähige Halme. Die wenigen Bäume warfen schmale Schatten, doch sie reichten kaum aus, um die gnadenlose Hitze zu lindern. Bruno spürte das Gewicht der Jahre in jedem Schritt. Seine Haut war rissig, seine Stoßzähne waren abgenutzt, und die einst gewaltige Kraft seiner Muskeln hatte nachgelassen. Einst hatte er seine Herde geführt, ein mächtiger Bulle, der seine Familie beschützte. Jeden Morgen hatte er zur aufgehenden Sonne seinen Rüssel gehoben, seinen Gruß an das Leben hinausposaunt.
Doch all das war lange her.
Nun wanderte er allein. Er wusste nicht genau, warum er diesen Weg ging, nur, dass er ihn gehen musste. Eine Stimme, tief in ihm, rief ihn – ein Ruf, den er nicht verstand, aber dem er blind vertraute. Die Nacht kam schneller, als er erwartet hatte. Der Himmel brannte in tiefem Rot, als er ein Wasserloch erblickte. Es lag friedlich in der Dämmerung, still, als wäre es nur für ihn bestimmt. Doch etwas war anders.
Sein Herz schlug schneller. Kein Schnauben anderer Tiere, kein Wispern der Savanne. Selbst der Wind hielt den Atem an. Bruno hob den Rüssel und witterte. Das Wasser roch frisch, doch die Luft trug eine andere Note – etwas Uraltes, etwas Unbekanntes. Er trat näher, seine schweren Füße wirbelten Staub auf. Seine Haut schauderte, als er sich am Rand des Wasserlochs niederließ. Der Himmel spiegelte sich in der dunklen Oberfläche, und als er hinabblickte, sah er nicht nur sein Spiegelbild.
Ein Stern leuchtete heller als alle anderen. Sein Blick blieb daran hängen. Kannte er diesen Stern? Ein Zittern durchlief ihn. Eine Erinnerung kehrte zurück.
„Eines Tages, mein Kleiner, wirst du den Weg zu den Sternen selbst finden.“
Seine Mutter. Ihre Stimme, ihr Lächeln. Die alte Frage aus seiner Kindheit. Damals hatte er gelacht und sie gefragt, wie er je dorthin gelangen solle. Sie hatte ihn nur angeschaut, wissend und still. Bruno blinzelte. War es nur eine Erinnerung – oder hatte er ihre Stimme eben wirklich gehört?
„Du bist angekommen.“
Er erstarrte.
Neben ihm saß jemand.
Nicht einmal sein feines Gehör hatte die Annäherung wahrgenommen, und doch war da eine Gestalt, ruhig, gelassen. Sie war menschlich – und doch nicht. Ihre Haut schimmerte silbern im Mondlicht, ihre Augen strahlten in einer Tiefe, die keine Angst auslöste, sondern Frieden. Bruno spannte sich an. War es einer dieser Geister, von denen die Ältesten in der Savanne erzählten? Ein Wesen aus alten Geschichten?
„Wer bist du?“ fragte er leise.
Die Gestalt lächelte. „Ich bin hier, um dich heimzubringen.“
Bruno ließ die Worte in sich einsickern.
Ein Teil von ihm wollte sich wehren – er war doch noch hier, er atmete, er lebte! Vielleicht würde er noch einmal seine Herde sehen? Vielleicht könnte er noch einmal zurückkehren? Doch als er die Stille der Savanne hörte, das ferne Rascheln des Grases – da wusste er es.
Er war bereits auf dem Weg.
„Ich bin nicht bereit.“
„Oh doch, das bist du.“
Die Stimme des Fremden war weich wie der Wind über der Savanne. Sie trug die Ruhe der Erde und die Weisheit der Zeit. Bruno spürte, wie sich sein Körper schwerer anfühlte und gleichzeitig leichter.
Er erinnerte sich an alles. Die ersten wackligen Schritte als Elefantenkalb, das beruhigende Streichen des Rüssels seiner Mutter.
Die ersten Spiele mit den anderen Jungen.
Die Hitze der Kämpfe, der Stolz, als er seine eigene Herde führte.
Sein erstes Kalb. Die Freude, als er zum ersten Mal Vater wurde. Er sah das kleine, tapsige Wesen vor sich, das mit seinem winzigen Rüssel nach ihm tastete. Bruno erinnerte sich, wie er damals seinen Kopf gesenkt hatte, seinen Jungen mit einer sanften Berührung willkommen geheißen hatte. Wie lange war das her? Er wollte sie noch einmal sehen, wollte sie noch einmal beschützen. Doch das Leben ließ sich nicht zurückholen. Nur die Erinnerungen blieben. Und vielleicht, dachte er, würden sie irgendwann alle unter den Sternen wieder zusammenkommen. Bruno hob den Blick. Der helle Stern stand genau über ihnen.
„Ich bat ihn, heute besonders hell für dich zu leuchten.“
Bruno schluckte.
„Ist es der Abendstern?“
Der Fremde nickte. „Er wartet auf uns.“
Bruno atmete tief ein. Zum ersten Mal seit langer Zeit war sein Herz frei von jeder Last.
Es war Zeit.
Er hob seinen Rüssel ein letztes Mal und trompetete in die Nacht, ein Abschiedsgruß an die Savanne, an das Leben, an all jene, die zurückblieben. Dann nahm er die Hand des Fremden. Ein leichter Ruck ging durch ihn, als würde ein schwerer Mantel von seinen Schultern gleiten.
Er blickte zurück. Am Wasserloch, im Schatten des Abendsterns, sah er sich selbst sitzen. Ein großes, friedliches Wesen, mit gesenktem Haupt. Sein alter Körper blieb zurück. Aber er war längst nicht mehr dort.
Ein sanftes Licht glitt über die Wasserfläche. Bruno hob den Kopf – und dann sah er sie.
Seine Mutter. Sie stand da, ruhig, mit sanften Augen. Ihr Rüssel bewegte sich leicht, als würde sie ihn berühren, ihn willkommen heißen. Ein warmes Gefühl durchflutete ihn. Er war nicht allein.
„Komm, lass uns gehen.“
Bruno wandte sich dem Stern zu, und gemeinsam stiegen sie in das silberne Licht, das ihnen den Weg wies.
Die Savanne blieb still.
Weit entfernt, wo seine Herde sich im Schutz der Nacht zur Ruhe legte, hob ein junger Bulle den Kopf. Er fühlte es. Ein Laut vibrierte tief in seinen Knochen, etwas Unsichtbares, doch unüberhörbar. Seine Ohren zuckten, als hätte der Wind ihm eine Botschaft gebracht. Und dann – langsam, leise, fast zögerlich – hob er den Rüssel und trompetete in die Dunkelheit.
Ein Abschied. Eine Erinnerung.
Bruno hatte sein Erbe hinterlassen.
VS.
Die Sonne brannte unbarmherzig. Das Land war kahl, verdorrt. Nur hier und dort wuchsen ein paar Halme. Die wenigen Bäume, die der Dürre trotzten, spendeten spärlichen Schatten. Die Luft flimmerte vor Hitze, und das Summen von Fliegen hing wie ein leises Sterbelied über der staubigen Erde. Seine schweren Füße drückten sich tief in den Sand, wirbelten feinen Staub auf, der sich wie ein Schleier auf seine raue, zerfurchte Haut legte. Dick und grau war sie, von der Sonne verbrannt, von Zeit und Kampf gezeichnet. Unzählige Narben hatten die Jahre ihm hinterlassen, Erinnerungen an Kämpfe gegen Rivalen, gegen Löwen, gegen die größte Bedrohung überhaupt – die Menschen. Er war einmal ein Gigant gewesen, einer der Großen. Wenn die Sonne über der Savanne aufging, hatte er seinen gewaltigen Rüssel in die Luft gehoben und die Welt mit seinem Trompeten erzittern lassen – ein Gruß an den Tag, ein Zeichen der Macht. Die Herde hatte ihn geachtet. Jungbullen hatten ehrfürchtig Platz gemacht, wenn er schritt. Doch das war lange her. Seine Kraft schwand. Seine Stoßzähne waren abgenutzt, sein massiger Körper schwer vom Alter. Viele Vollmonde waren vergangen, seit er sich das letzte Mal stark gefühlt hatte. Jetzt war er auf der Flucht. Seit Tagen verfolgten ihn die Jäger. Er wusste nicht, wie viele es waren. Aber er wusste, was sie wollten. Er hatte zu viele wie sie gesehen. Zu viele Gefährten hatte er verloren – starke Bullen, sanfte Kühe, Kälber, die nie die Chance gehabt hatten, zu Riesen heranzuwachsen. Er erinnerte sich an ihre Schreie, an das Krachen brechender Knochen, an das süßliche, klebrige Blut, das die Erde trank.
Und jetzt war er an der Reihe. Seine müden Beine trugen ihn zum Wasserloch. Das Wasser war schal, kaum mehr als eine braune Brühe, aber er schlürfte es gierig. Dann ließ er sich in den kühlen Schlamm sinken, stöhnte auf vor Erleichterung. Zum ersten Mal seit Tagen spürte er keinen Schmerz. Er schloss die Augen. Vielleicht sollte er hierbleiben. Sich einfach niederlegen und es geschehen lassen.
Aber dann hörte er es.
Ein Geräusch in der Ferne. Erst nur ein Vibrieren im Boden, dann das dumpfe Grollen von Motoren. Eine Staubwolke wuchs am Horizont. Sie kamen.
Sein Herz schlug schneller.
Noch konnte er fliehen. Noch konnte er sich im Schatten der Bäume verstecken.
Aber er wusste, dass sie die Herde fanden, wenn sie ihn nicht bekamen. Sie waren nicht weit. Vielleicht schon in der Nähe.
Nein. Er konnte nicht fliehen.
Nicht diesmal. Er stemmte sich schwerfällig aus dem Schlamm, die Kruste trocknete rasch in der Hitze. Sein Blick war wachsam. Er richtete sich zu voller Größe auf.
Dann hob er den Kopf. Sein letzter Trompetenschrei zerriss die Luft – tief, donnernd, bebend vor Wut und Leben. Es war ein Ruf, der durch die Savanne hallte, ein letzter Gruß an die Seinen, eine Warnung an die Feinde.
Die Jäger antworteten mit Feuer.
Das erste Geschoss traf seine Schulter. Ein dumpfer Aufschlag, ein brennender Stich. Er taumelte, fing sich. Ein weiteres krachte in seinen Brustkorb, zerfetzte Haut, bohrte sich durch Muskelfasern, zerschlug Knochen.
Schmerz explodierte in ihm.
Aber er fiel nicht.
Er stürmte los. Seine gewaltigen Beine rissen den Boden auf, der Sand flog, das Donnern seines Laufs ließ die Erde erbeben. Der erste Jeep war nur noch wenige Meter entfernt. Die Männer schrien, rissen an den Waffen, versuchten zurückzusetzen – doch die Reifen drehten durch.
Zu spät.
Mit letzter Kraft warf er sich gegen das Fahrzeug. Metall kreischte. Glas splitterte. Seine Masse begrub den Jeep unter sich. Die Knochen der Männer knackten unter seinem Gewicht wie dürre Äste. Er brüllte noch einmal, dann brachen seine Vorderbeine. Sein Körper sackte in sich zusammen, aber er ließ nicht los.
Blut füllte seine Lunge.
Die Welt wurde dunkler.
Stille.
Die anderen Jäger sprangen aus dem zweiten Wagen, starrten auf das Chaos. Dann rannten sie los. Sie versuchten ihre, unter ihm begrabenen Gefährten herauszuziehen. Aber der Elefantenbulle ließ sie nicht los. Sie waren seine Beute.
Er atmete schwer. Das Leben sickerte aus ihm heraus. Dann hörte er es. Ihr Lachen. Roh, hämisch, siegessicher. Ein Ruck an seinem Kopf. Ein Brennen, nicht wie Schmerz, sondern wie das Entfernen eines Teils von ihm. Metall kratzte an seinem Stoßzahn, zersägte langsam, unaufhaltsam. Er wollte brüllen, doch sein Rüssel sank zu Boden. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.
Dunkelheit.
Und dann – nichts.
Die Jäger schossen weiter. Kugeln schlugen in sein regloses Fleisch, rissen Löcher in die Haut, die so viele Jahre Sonne und Wind getrotzt hatte. Sie lachten, scherzten, während sie seine Stoßzähne absägten. Blut sickerte in den Sand, doch es störte niemanden.
Die rote Sonne wendete sich ab und verschwand hinter dem Horizont.
Der Tod des Königs der Savanne ließ die Welt nicht innehalten. Nur für einen Moment lag Stille über dem Land – dann zog der Wind den Staub über seinen Körper hinweg
Antwort zu den Geschichten von “ Bruno“.
Beide Versionen zeichnen gekonnt und feinfühlig ihr Leben nach, so dass man ohne Weiteres diese Geschehen auch auf andere Lebensformen übertragen könnte und kann. Es ist einfach Ihre Handschrift, lieber Stan Marlow.
Beide Versionen sind realistisch und nachvollziehbar. Interessant fand ich im Gästebuch die Meinung von “ Abendstern“ zu der 2. Version. Ich muss Bruno hier einfach verteidigen. Er wusste was die Wilderer mit ihm vor hatten. Alt und geschwächt wie er war, sahen sie hier in ihm eine leichte Beute für ihre Gier nach Elfenbein, nach seinen Stoßzähnen. Brunos ganze Verachtung ob dieser Anmaßung, seine Wut, sein Stolz, ließen ihn noch einmal antreten zu diesem ausweglosen Kampf mit seinen menschlichen Peinigern. Er verlor und begrub unter sich einige Weggefährten der Elfenbeinräuber.
Geschändet, ohne seine Stoßzähne, aber sicher als ein Held, ist er auch dort an jenem Ort, wo sein Mitbruder, der große „Graue“ auf ihn wartete.
Aus eigner Erfahrung: Im März 1985 durfte ich mit Freunden im “ Amboseli-Nationalpark“ Kenia, Afrika, unter Anderem, Elefanten Herden in der Savanne, ihr familiäres, soziales Verhalten, kennen lernen und bestaunen. Am Abend, nach der Safari, lauschten wir den Geschichten von den einmaligen imposanten grauen Dickhäutern. In den meisten Ländern gelten sie als Glücksbringer, in Sri Lanka als heilige Tiere. Ich selbst liebe sie einfach.
Letzte Morgen-Safari. Unser Betreuer schaute uns lächelnd an und erinnerte uns zum wiederholten Mal: Haben sie ihre Ferngläser mit? Nach gewohnter Fahrt in die Savanne blieb unser Wagen plözlich stehen. Ringsum war keine Tierbewegung zu erkennen, oder doch? Die Kamera nachgestellt und…so etwas wie eine kleine bewachsene Insel tauchte vor der Linse auf, umgeben von Gewächsen, Höhe ungefähr gleich unserem Schilf, teils gebleicht von der Sonne, teils noch von grüner Farbe. Inmitten beim genauen Hinsehen entdeckten wir zuerst eine kleine dunkle Erhebung die zu einem Hügel wurde. Langsam und faszinierend, sicher auch mühevoll, schälte sich aus dem Dunklen ein Grau heraus und wurde zu einem imposanten, wenn auch sehr alten Elefantenbullen. Wir würden heute sagen: Aufstehen in Zeitlupe! Er blieb einfach stehen, so eine kleine Weile, als würde er überlegen, gehe ich in die Savanne oder nicht, werde ich meinen Weg noch schaffen?
Seine Zeit der Herdenführung war längst vorüber. Ein junger, starker Bulle hatte seine Stelle übernommen. Er selbst lebt allein hier an dem größeren bewachsenen Wasserloch bis zum Ende seiner Zeit.
Ich habe den Alten, Würdigen, den großen Grauen, all die Jahre nicht vergessen können, ergreifend, wie er so gelassen da stand, diese Abgeklärtheit von der sicher einstigen einmal gewesenen Naturgewalt, die er war.