Da saß ich nun mit einem Halbwissen und wollte mehr. Ich machte mich auf die Suche, die Suche nach dem Mann, der mir damals am Feuer diese seltsamen Geschichten erzählte, dessen Alter ich nicht zu schätzen vermochte. Ich kenne viele Menschen, habe so manche Kontakte, doch meine Suche blieb ohne Erfolg. Eines Tages, es war noch sehr früh am Tag. Nebel ließ den Morgen noch Grauer scheinen und die Kälte kroch durch meine dünne Jacke und ließ mich nach wenigen Schritten frieren. Widerwillig drehte sich der Schlüssel im Briefkasten. Das Schloss quietsche. Das Geräusch drang dumpf durch den Nebel an meine Ohren. Unwirkliche Wirklichkeit. Ein einziger Brief lag darin. Kein Absender, kein Name stand auf dem Umschlag. Ich steckte ihn in meine Jackentasche und meine Hausschuhe schlürften tastend über den glitschig gewordenen Kiesweg. Die Haustür fiel ins Schloss. Endlich wieder im Warmen. In der Küche machte ich mir einen Cappuccino »white« mit viel Creme.
Während das Wasser im Wasserkocher sich erhitze, nahm ich den Brief und die scharfe Klinge eines Küchenmessers schlitzte ihn auf. Das Wasser kochte und brodelte, ich nahm es kaum wahr, denn der Inhalt des Umschlages enthielt eine Einladung – eine Einladung nach Berlin in die Herbert-Baum-Str. 45. Es war eine Einladung zu einer Beerdigung, die auf einem sehr alten ehrwürdigen jüdischen Friedhof stattfinden sollte. Keine Unterschrift, kein Name – ein schlechter Scherz? So sehr ich mir auch den Kopf zerbrach, ich kannte niemanden in meinem Bekanntenkreis, der ein Jude war. Brodelnd verband sich das heiße Wasser mit dem Cappuccinopulver. Eine dicke Creme aus Milchschaum bildete sich. Der kleine Metalllöffel wurde heiß. Ich verbrannte mir die Finger. Wo war ich nur mit meinen Gedanken? Dann griff ich zum Handy und wählte alle meine mir lieb und teuer gewordenen Menschen an. Allen ging es gut und genossen das Leben. Wer, wer war aus dem Leben geschieden, den ich kannte, dessen Freunde mich zu seiner Beerdigung einluden. Je mehr ich versuchte, dass eben passierte zu ergründen, umso mehr verstrickte ich mich in meinen Gedanken und Fantasien.
So fuhr ich entsprechend dem Anlass dunkel gekleidet nach Berlin in die Herbert-Baum-Str. 45. Ganz am Anfang einer Baumallee parkte ich das Auto und lief langsam in die Allee hinein. Die toten Blätter, manche noch vom Herbst buntgefärbt, manche vom nahenden Winter dürr und tot, raschelten unter meinen Schuhen. Es war eigenartig laut, das Geräusch. Kein Vogelgekreisch, kein Autolärm störte es. Ich lehnte mich an einen Baum, wollte meine Gedanken ordnen, wollte die Szene beobachten, noch konnte ich umkehren. Sie versammelten sich, ganz in Schwarz gekleidet beim großen vergitterten Eingangstor. Hier sollte ich jemanden treffen, der mich abholt, jemand, den ich nicht kannte. In Gedanken versunken gab ich mich meinen Fantasien und der Stille hin. Plötzlich berührte mich etwas am Arm, leicht und dennoch bestimmend. Ich schrak auf und meine Augen blickten in die einer älteren Frau. Ihre Augen schauten traurig, die Haut war fahl, ihre Haare waren einem Pagen gleich kurz geschnitten und von tiefem Schwarz. Ihre Lippen waren schwarz gefärbt.
Sie war mir fremd und dennoch hatte ich das Gefühl sie zu kennen. Erst als ich schweigend und forschend in ihre Augen blickte und ihre »bernstein-gelben« Pupillen sah, da wusste ich, wer sie war – damals am 31. Oktober saß sie mit am nächtlichen Feuer unweit jenes Mannes, der mir unter anderem von den Nephilim erzählte.
»Wir müssen gehen«, sagte sie fast tonlos. In den Händen hielt sie zwei Kippot. »Du musst sie aufsetzen.« Wir näherten uns den anderen. »Es war der Wille meines Gefärten«, sagte sie mir leise, »dass Du dabei bist. Es war nicht einfach Dich zu finden.« »Wer seid ihr«, fragte ich? »Warum wollte er es?« »Warum ich?« »Hilf mir das zu verstehen, bitte!« »Er hat Dir von den Nephilim erzählt. Das ist Grund genug.« Innerlich war ich sehr angespannt, wartete auf die nächsten Worte. Vergebens! Der Griff um meinen Arm wurde fester. Wir waren nun bei den anderen. Sie begrüßten mich mit einem stummen Kopfnicken. Jeder setzte seine Kippa auf und wir gingen durch das Eisentor auf den Friedhof. Ich nahm mir die Zeit und schaute mir die »Weggefährten« näher an. Ein paar Gesichter kannte ich von dem Halloween-Feuer. Der schwarze Stoff, aus dem ihre Sachen gefertigt wurden, schien mir sehr teuer. Manchmal blitze ein Abzeichen am Kragen, sah ich gestickte Monogramme am Kleid oder ein Stigma, dessen Bedeutung ich nicht kannte. Irgendwie hatte ich den Eindruck eine Rangfolge unter den Schwarzgekleideten zu erkennen. Ich wurde zwar von ihnen wahrgenommen, das war aber es schon. Es war still, als wir an den Gräbern zu dem Ort gingen, an dem das Unausweichliche stattfinden sollte. »Bleib neben mir« sagte leise die Stimme, die mich an dem Baum in der Allee aus meinen Gedanken gerissen hatte. Warum fragte ich mich? Was ist, wenn nicht? Ich hatte die Kappa auf. Noch nie in meinem Leben habe ich so eine Kopfbedeckung getragen. Es war ein seltsames Gefühl sie zu tragen. Vor uns ging nur noch ein älterer Herr, aufrecht, stolz – ein »Bär von einem Mann«. Wer war er? Was verkörpert er? Warum ich, hatte ich sie des Öfteren gefragt. Meine Worte riss mir der Wind von den Lippen. Das hier etwas Besonderes und Außergewöhnliches stattfand, war mir inzwischen klar geworden. Nun kam das Zeremoniell – ob es ein Rabbi war, der die Predigt hielt, kann ich nicht sagen. Wie stellt man sich einen Rabbi vor – wie die eines Pfarrers oder Priesters? Meiner Meinung nach sah ich die Gestalt eines durchtrainierten wissenden Mannes, die eines Kämpfers, vielleicht. Seine Ausstrahlung und seine Augen sprachen für sich. Seine Stimme war fest, durchdringend, aber leise. Es war die Sprache von Engeln, von Wächtern, Zukunft und Vergangenheit, von Weissagungen und mehr. Ich denke, dass da viel Religiöses dabei war, was speziell dem Judentum zuzuordnen ist und ich nicht kannte. Als der »Rabbi« das Alter von 46 Jahre erwähnte, durchfuhr es mich eisig. Ich hätte schwören können, damals einen viel älteren Herrn kennengelernt zu haben. Was hat ihn so alt gemacht? Was hat ihm die Lebensenergie aus dem Körper gesaugt? So viele Gedanken tobten durch meinen Kopf. Die Worte am Grab waren nur »flüsterndes« Beiwerk, eine seltsame »gesprochene Musik« zu dem Geschehen. Ich habe versucht, in den Gesichtern der Trauernden zu lesen. Sie waren starr und unbeweglich. In ihren Augen aber brannte das gleiche Feuer, wie in denen des »Rabbi«. Der Sarg war aus kostbarem roten Holz und mit vielen Zeichen und Ornamenten, die mir fremd waren, verziert. Als der »Abschied« kam, der Sarg in die Erde versenkt wurde, erhob der »Rabbi« seine Stimme. Laut hallte sie über den alten Friedhof, schwebten über ein jedes Grab und die Worte, die in Hebräisch gesprochen wurden, klangen in meinen Ohren wie eine Beschwörung. Sie sprachen zu mir kein Wort, nicht einer.
Da standen wir wieder, seine »Lebensgefährtin« und ich am gleichen Baum in der Allee vor dem Friedhof. Ich hätte mir gewünscht, mehr zu erfahren mehr von dem, was ich hier erleben durfte. Kein Wort, keine Erklärung verließ ihre schwarz geschminkten Lippen. Der Wunsch blieb bis heute unerfüllt. »Einen weiteren Kontakt wird es nicht geben«, sagte sie mit leiser Stimme. «Es war sein Wille!« Sie umarmte sie mich und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, zu den anderen.
Was soll ich sagen außer: In mir herrscht bis heute ein gedankliches Chaos. Was war eben passiert? Wo war ich da hineingeraten? Wer waren sie, die Schwarzen? Hatte ich es hier mit einer Sekte zu tun, einem Geheimbund oder …? Ich habe es aufgegeben nachzuforschen, mehr herauszufinden. All meine Bemühungen verliefen im Sand. Ich habe mir gesagt, wenn es ein Mysterium bleiben soll, dann ist es ebenso. Aber wer kennt schon die Vorsehung …
Die lange Fahrt über die Autobahn verlief sehr kurzweilig. Innerlich aufgewühlt kamen die abenteuerlichsten Gedanken, die gewagtesten Theorien an die Oberfläche meines Denkens. Einerseits würde ich es genial finden, wenn ich mehr Einblick in dieses Mysterium erhalten würde, anderseits fürchte ich mich davor.