Wenn man in Kirchenfenstern, Skulpturen oder künstlerischen Darstellungen den Engeln begegnet, stehen sie fast immer mit der Bibel oder christlich mittelalterlichen Vorstellungen in Verbindung und zeigen ein ähnliches Bild … geflügelte Jünglinge in langen Gewändern und blondem Wallehaar, welche Posaune spielend von einer Korona aus Licht umgeben um ein wichtiges Ereignis kreisen, zu dem Gott sie als Verkünder ausgesandt hat.
Doch tatsächlich sind Gestalt, Rasse und Art des Engels weitaus komplexer, und die christliche Bibel findet vergleichsweise wenig Erwähnung für diesen Umstand. Historische Überlieferungen über Engel findet man vor allem in den Apokryphen (Schriften, die von der Kirche nicht in den Kanon der Bibel aufgenommen wurden). Die jüdische Mythologie wie das „Buch Henoch“ enthält viele Informationen zum Thema Engel.
Hier beschreibt der Weise Henoch seine Reisen durch sieben Himmel, die jedoch an konkreten geografischen Orten der Erde angesiedelt sin. So gilt der erste und niederste Himmel als Wohnort von Adam und Eva. Der fünfte Himmel fungiert als „Straflager“ für die „Gefallenen Engel.
Interessanterweise herrscht unter den Engeln eine strenge Hierarchie – so sind die Engel im siebten Himmel Gott am nächsten, während die Engel im äußersten Himmel noch den Menschen nahe stehen, woraus sich wiederum ihre Aufgaben ergeben. Die Engel der obersten Hierarchie erhalten ihre Weisungen direkt von Gott, welche bis in den äußersten Himmelskreis weitergeleitet werden. Zu den höchsten Engelswesen gehören die Seraphim und Cherubim, die meist als körperlose, vergeistigte Lichtquellen beschrieben und verstanden werden, während die Erzengel und die Schutzengel die äußersten Himmelskreise bewohnen und den Menschen und ihren Problemen dienen. Die Erzengel und Schutzengel sollen den Menschen auch in Gestalt am ähnlichsten sein.
Es gibt jedoch in den Überlieferungen und Legenden rund um die Engel zahlreiche Widersprüche – so wird Michael einmal als Erzengel und an anderer Stelle wieder als einer der Seraphim bezeichnet.
Luzifer, Gottes Gegenspieler, soll vor seinem Fall einer der höchsten Engel gewesen … und von Gott sogar bevorzugt worden sein.
Luzifer (was in der Übersetzung so viel wie „Lichtbringer“ heißt), taucht bereits in der römischen Kultur als Morgenstern Venus auf – damals hatte er noch nichts mit dem Gegenspieler Gottes gemeinsam, welcher die Menschen verachtet und deshalb immer wieder in Versuchung führt. Vielmehr war er eine Lichtgestalt von strahlender Schönheit.
Es gibt unterschiedliche Legenden, wie Luzifer und seine Vasallen letztendlich zu Gegenspielern Gottes wurden. Jene Geschichten, nach denen die Engel zu den Menschen hinabstiegen, um ihnen göttliche Geheimnisse und verschiedene Zivilisationstechniken zu vermitteln. Allerdings schlugen sie dabei über die Stränge, denn zum Unmut Gottes zeigten sie den Männern, wie man Waffen schmiedet und den Frauen, wie man sich schminkt, tanzt und für die Männer schmückt. Ihre Aktivitäten bezogen sich also hauptsächlich darauf, den Menschen Dinge von zweifelhafter Moralität beizubringen, was sie nicht unbedingt zum Vorteil der Menschen taten, sondern vielleicht, um die Rasse der Menschen bei Gott in Verruf zu bringen. Einige der Engel verführten die Menschenfrauen dann auch gleich selbst, was letztendlich ihren Sturz und ihre Verbannung zur Folge hatte … und seitdem betätigen sich jene abgefallenen Engel dauerhaft als Versucher und Verführer der Menschen sowie mit der Zeugung entarteter Nachkommenschaft mit menschlichen Frauen.
Diese Überlieferung vom Sturz der Engel ist eine interessante Variante in Verbindung mit der Legende um das Buch Raziel, welches Adam in Gottes Auftrag geheimes Wissen für die Rückkehr ins Paradies vermitteln sollte. Dieses Mal waren es die hochrangigen Cherubim, welche Adam das Buch stahlen, weil sie die Menschen für unwürdig zur Rückkehr ins Paradies befanden oder ihnen die Rückkehr missgönnten.
Es scheint so, dass es in den Legenden um Engel und Menschen nicht selten um geheimes göttliches Wissen geht, das den Menschen nach Meinung der Engel nicht zusteht … und im Kontext unserer Zeit müsste es da um weitaus mehr gehen, als um die Mischung von Augenschminke oder die Herstellung eines guten Speeres.
Eine weitere interessante Geschichte fand ich um die Nephilim (Halbengel).
Die Nephilim tauchen in den Apokryphen keineswegs (wie in manch romantisiertem Fantasyroman) als verführerische und begehrenswerte Halbgötter auf, sondern sie werden als Monstrositäten und Riesen beschrieben, die Vieh und Menschen gleichermaßen verschlangen … als eine echte Plage und Strafe der Menschheit! Dies ließ mich ernsthaft über das Erbgut von Engeln und Menschen nachdenken … um es vorsichtig auszudrücken … geht man von den Überlieferungen aus, dürften die Gene von Engeln und Menschen nicht die beste Mischung gewesen sein.
Zum Schluss noch ein paar Worte zur Engelsschrift und den 19 henochischen Schlüsseln. Tatsache ist, dass jene Sprache, die als Henochisch bezeichnet wird, und angeblich vom Engel Gabriel dem Alchemisten John Dee und seinem Medium Edward Kelly übermittelt wurde, noch heute ein Rätsel, denn es handelt sich hier um eine eigenständige Sprache mit einer ausgefeilten Grammatik. Einige Gelehrte vertreten die Ansicht, dass John Dee sich diese komplexe Sprache nicht einfach hätte ausdenken können.
Bei richtiger Anwendung sollen die 19. Schlüssel Reisen in die Äther (die verschiedenen Himmelsphären) ermöglichen. John Dee hat allerdings aus jenen Aufzeichnungen, welche ihm angeblich vom Engel Gabriel übermittelt wurden, nie ein anwendbares System erschlossen bzw. keine „Gebrauchsanweisung“ hinterlassen. An der Aufschlüsselung versuchten sich lange Zeit Esoteriker wie der Ursprungsorden des „Hermetic Order of the Golden Dawn“.
Nach allem, was die Apokryphen über die Engel preisgeben, kann man sie kaum als sanftmütige Beschützer und Ansprechpartner der Menschen bezeichnen. Und für den Fall, dass es tatsächlich gelänge, mit den 19 Schlüsseln eine Brücke zwischen himmlischen und irdischen Sphären zu spannen … welche Art würde wohl auf Dauer überleben? Die Engel oder die Menschen? Die Antwort findet sich vielleicht in unserem eigenen Erbgut!