Doch das Besondere an dem Roman Der letzte Grieche ist, dass diese Kreuzungen auch in den Text eingeflossen sind. Es ist eine gewaltige, aber auch leichtfüßige Epopöe über das europäische zwanzigste Jahrhundert, und während man sich im deutschsprachigen Raum an Familien- und Generationenromanen übt und damit glaubt, international anschlussfähig zu sein, sind wahre Zeitgenossen längst woanders. Sie sind im 149-Seelen-Dorf Áno Potamiá im Grenzgebirge Griechenlands genauso wie im schwedischen Balslöv am Rövarlövsee mit 125 Bewohnern. Es sind entrückte Orte, aber sie rühren, gerade mit der vertrackten Genealogie der Familie Georgiadis, an ein geheimes Zentrum der Welt. Der Stammbaum der Familie ist auf den Innenseiten des Bucheinbands aufgezeichnet, doch in einigen Fällen verbirgt er die wirklichen Schürzungen des Knotens. Die Konturen der Hauptfigur, des 1943 geborenen Jannis Georgiadis, geraten beispielsweise schon dadurch ins Schwimmen, dass der Vater und der Großvater denselben Namen tragen.
Ein Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist die Vertreibung der Griechen durch Atatürk und seine Truppen aus Smyrna 1922 – einer ins Mythische versunkenen Stadt, die Jannis’ Vater wie auch seine Großeltern prägt. Dass Jannis’ Großvater der türkische Gebetsrufer Erol Burut ist und nicht der blasse, hastig als Ehemann auserkorene Namensgeber Georgiadis, gehört zu den untergründigen Fäden der Handlung. Die theatralisch-alltäglichen Riten der Bäckersfamilie, aus der Jannis’ Großmutter Despina stammt, die entscheidende Liebesszene im Schatten einer Moschee, das mörderische Chaos und die Flucht 1922 – dies alles wird in einer wundersamen Zeitenmischung erfasst. Gerade weil sie vielfach ästhetisch gebrochen werden, erscheinen die Szenen so eindringlich. Die aus Smyrna geflohene Restfamilie strandet im makedonischen Bergdorf Áno Potamiá.
Dieser karge, einfache, unspektakuläre Flecken mit seinen Ziegen und Gräsern löst in Jannis später dieselbe Sehnsucht aus, die seine Großmutter nach Smyrna gehabt hat – denn Jannis emigriert in den sechziger Jahren nach Schweden und folgt damit seinem politisch verfolgten Freund Kostas und dessen Schwester, seiner ewig unerfüllten Liebe Efi. Diese Liebesgeschichte ist, wie die politische Geschichte Griechenlands, in die Handlung verwoben. Auch der Nationalismus erscheint als ein Movens der unmittelbaren Zeitgeschichte, ohne dass dies ausdrücklich deklariert werden muss.
Über den Autoren:
Aris Fioretos, Jahrgang 1960, als Sohn eines Griechen und einer Österreicherin in Göteborg geboren, ist Kosmopolit, schwedischer Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Übersetzer (vor allem von Paul Auster und Vladimir Nabokov), war Gastdozent an amerikanischen Universitäten und Kulturattaché an der Schwedischen Botschaft in Berlin. Als Professor für Ästhetik an der Universität Stockholm pendelt er derzeit zwischen Stockholm und Berlin. Der letzte Grieche ist sein dritter Roman, nach Die Seelensucherin(2000) und Die Wahrheit über Sascha Knisch (2003). Auf Deutsch liegt auch noch der Essayband Das Maß eines Fußes (2008) vor.
Rezensionen:
Mit herzzerreißende Liebesgeschichte
Dank der geschickten und raffinierten Leitmotiv-Technik des Autors Aris Fioretos (der sich hier hinter der Herausgeber-Fiktion versteckt) weiß der Leser stets, an welchem Punkt der Geschichte er sich gerade befindet und wie sich die einzelnen Puzzle-Stücke zu fragmentarischen Lebensläufen fügen lassen. Der Leser ist fast immer bereits darüber informiert, was den Romanfiguren gleich widerfahren wird und darf sich mit dem Erzähler im privilegierten Bunde fühlen. Letztlich entsteht, bei aller literaturtheoretischen und historiografischen Skepsis des Autors, doch eine romanähnliche Handlung, sogar mit einer verschwiegenen, aber herzzerreißenden Liebesgeschichte als ihrem Dreh- und Angelpunkt – der unerfüllten Jugendliebe zwischen Jannis und Efi, die füreinander wie gemacht sind und doch einander ständig verfehlen.
Grundiert wird die Geschichte von „dieser jämmerlichen Sache“ – vom ewigen Phantomschmerz der Diaspora-Griechen, ihrer Sehnsucht nach Heimat, ihrem „Patriotismus ohne Vaterland“. Und vielleicht bilden Jannis, der Zukunftsträumer, und Kostas, der Chronist und Historiker, die doppelte Ausgabe von Herakles, dem griechischen Ideal-Helden: „Der eine war alles Gewesene, der andere alles, was noch werden konnte.“ Wie jeder Autofahrer weiß: Nur wer zurückschaut, kommt vorwärts.
geschrieben von: Sigrid Löffler, Kulturradio
und
Einen Roman kann ich nur als Leser bewerten, nicht als Literaturfachmann.
Der in der Kurzbeschreibung vorgestellt Inhalt des Romans könnte flüssig geschriebene, gut lesbare Literatur ergeben. Ich denke da zB an „Middlesex“ von Jeffrey Eugenides, ebenfalls einem griechischen Auswanderer.
Aber in diesem Fall finde ich die Struktur einfach nur furchtbar.
Als Begründung für die Sprunghaftigkeit müssen Aufzeichnungen des Protagonisten herhalten, auf Zetteln oder Karteikarten festgehalten, woraus der Autor dann die Geschichte (re-) konstruiert haben will.
Hätte er diese Aufzeichnungen besser dazu genutzt, eine sich einfach, linear entwickelnde Geschichte über griechisch/zyprische/mazedonische Emigranten in Schweden am Beispiel einer Familie zu Schreiben. Einschübe, Rückblicke wären ja trotzdem möglich.
Bis zu etwa einem Drittel des Buchs habe ich mich – guten Willens – durchgekämpft. Ein Literaturkritiker schrieb ja in einer renommierten Tageszeitung recht positiv darüber. Ich machte mir schon Vorwürfe, warum ich keine Begeisterung empfand. Bin ich denn ein solcher Literatur-Banause? Nun gut, jetzt gebe ich auf und das Buch an die hiesige Bibliothek.
geschrieben von: Noffhoff