Ein halbes Jahrhundert ist es jetzt her, dass Fritz Fischer die westdeutsche Geschichtswissenschaft mit seinen Thesen über die Schuld des Deutschen Kaiserreiches am Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Aufregung versetzte. Ein entfernter Nachhall der von Fischer ausgelösten Debatte ist noch in aktuellen Darstellungen zur Vorgeschichte und Geschichte des Ersten Weltkrieges zu spüren. Zwar teilt heute niemand Fischers Position, das Deutsche Reich habe gezielt auf einen großen europäischen Krieg hingearbeitet und sich an einem „Griff nach der Weltmacht“ versucht. Doch in vielen deutschsprachigen Arbeiten – man denke etwa an einschlägige Darstellungen von Volker Berghahn, Klaus Hildebrand, Wolfgang Mommsen oder Gregor Schöllgen – fällt eine einseitig deutschlandzentrierte Sicht auf die Krise vom Juli 1914 auf. Die Fehlkalkulationen und Fehlentscheidungen der deutschen Führung werden weithin als maßgeblicher kriegsauslösender Faktor betrachtet.
Ausgehend von der Illusion, Russland und Frankreich seien nicht bereit, sich wegen eines Konfliktes auf dem Balkan militärisch zu engagieren, habe die deutsche Führung nach dem Attentat von Sarajewo auf eine Lokalisierung des absehbaren österreichisch-serbischen Krieges gesetzt und der Wiener Regierung einen „Blankoscheck“ für ein rasches Losschlagen gegen Serbien ausgestellt. Abgesichert durch die Rückendeckung des deutschen Bündnispartners habe Österreich einen harten, kompromisslosen Kurs gesteuert, der zwangsläufig Russland als Schutzmacht Serbiens auf den Plan gerufen habe. Als sich die Krise zugespitzt habe, habe Berlin nicht mäßigend auf Wien eingewirkt. Im Gegenteil, die Führung des Deutschen Reiches habe bewusst auf Risiko gespielt, um zu „testen“, wie kriegswillig Russland sei und wie sich die Entente in dieser explosiven Situation verhalten werde. Die Reichsleitung, seit Jahren über Deutschlands außenpolitische Isolation und das militärische Erstarken Russlands besorgt, sei gewillt gewesen, Frankreich und Russland notfalls durch einen Krieg nachhaltig zu schwächen, sollte es nicht gelingen, die Gegner auf diplomatischem Wege auseinanderzudividieren. Diese Risikostrategie der deutschen Führung sei fehlgeschlagen, weil sich Russland auf die Seite Serbiens gestellt, Frankreich seine Bündnisverpflichtungen gegenüber Russland erfüllt und Großbritannien wider Erwarten keine neutrale Haltung eingenommen, sondern Partei für Frankreich und Russland ergriffen habe.
über den Autor:
Christopher Clark, geboren 1960, lehrt als Professor Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Zu seinen Forschungsgebieten zählt neben der preußischen die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Er ist Autor einer Biographie des letzten deutschen Kaisers, Wilhelms II.
Rezensionen:
Hier setzt Clark zu einem weiter gerichteten Blick auf Europa an, auf die langsame und zögerliche Ausbildung von Allianzen, die in den Krieg hineingezogen wurden. Diese Szenerie ist zwar bekannt, jedoch widerspricht Clark einer Reihe von herkömmlichen Ansichten. So legt er etwa dar, dass die britische Presse eine Furcht vor dem deutschen Flottenbau schürte, die britischen Minister sich darüber jedoch keine großen Sorgen machten und auch keinen Anlass dafür gehabt hätten: im Jahre 1905 verfügte das Deutsche Reich nur über 16 Schlachtschiffe, Großbritannien dagegen über 44; und im Jahre 1913 beendete Berlin ohnehin das Wettrüsten aus eigenem Antrieb. Dennoch hatten inzwischen entscheidende britische Poltiker das Reich als Hauptfeind ausgemacht, vielleicht schon seit dem Krüger-Telegramm (welches Clark hier in eine weitere Perspective setzt die mir bislang unbekannt war).. Er unterstreicht die britische Arroganz, mit welcher jede Ausweitung des Empires gerechtfertigt, jedes deutsche Streben nach Einfluss dagegen abgelehnt wurde. So wurde sofort protestiert, als Deutschland eine Eisenbahnlinie als Verbindung zwischen Transvaal und einem Hafen in Mozambique baute. Merkwürdigerweise werden in diesem sehr detaillierten Buch die drei Reisen von Joseph Chamberlain nach Berlin in den Jahren 1898, 1899 und 1901 nicht erwähnt, deren Ziel es war, ein mögliches Bündnis mit dem Reich zu sondieren. Erst als diese Bemühungen fehlschlugen, wandte sich London zuächst Frankreich und später Russland zu. Clark sagt aber auch, dass die Verständigung mit Frankreich und späterhin mit Russland primär gegen Deutschland gerichtet war. In der Entente mit Frankreich sieht er hauptsächlich einen Versuch, das Bündnis zwischen Frankreich und Russland zu schwächen (letzteres war in Großbritannien immer als die größte Bedrohung für das Empire betrachte worden), in der Entente mit Russland von 1907 hingegen die Ausnutzung der russischen Schwäche nach der Niederlage gegen Japan. So sollten die von Russland ausgehenden Bedrohungen, welche damals (und von einigen britischen Politkern auch noch Anfang 1914) als viel gefährlicher im Vergleich zu der Bedrohung durch das Deutsche Reich betrachtet wurden, aus dem Wege geräumt werden.
Es folgt ein faszinierends und detailliertes Kapitel in dem aufgezeigt wird, dass alle Großmächten immer wieder durch eine Unsicherheit über die eigentliche Leitung ihrer Aussenpolitik behindert wurden: lag die Führung bei den Monarchen? bei den Regierungchefs? bei den Außenministern? bei den Beamten des Außenministeriums? Bei den im Ausland tätigen Botschaftern? beim Militär? bei den Finanzministern?). Die Rivalität dieser Instanzen verursachte die Schwankungen in der Politik, besonders zwischen aggressiven und versöhnliche Schritten. Das wird häufig übersehen, wenn wir die Dinge hinterher nur als einen Marsch wahrnehmen der unaufhaltsam zu dem Zusammenprall von 1914 führen musste. Die eingehende Schilderung der Agadir-Krise von 1911 ist ein überzeugendes Beispiel für das Wechselspiel rivalisierender Zielsetzungen innnerhalb der Regierungen von Frankreich, Deutschland, und sogar Großbritannien.
geschrieben von: Ralph Blumenau